Sonntag, 12. Februar 2012

Sturmflut 1962



Zu behaupten, die Flut am 16. Februar 1962 kam überraschend und ist in ihrer Interpretation selbst 50 Jahre später genauso falsch wie auch richtig. Denn sehr heftige Winde gab es auch schon in den Tagen zuvor. Aber dass das Wasser so vehement in die Stadt gedrückt werden würde, war tatsächlich extraordinär. Für alle. Vielleicht hätte man es am Himmel erkennen können. „Der war so gelb,“ erzählte uns Liesa Haak aus Georgs­werder, „dass es fast unheim­lich war.“



Fakt ist: Schon Tage vorher war die gesamte Nordseeküste von einer schweren Sturmflut betroffen, und schon am 15. Februar, also einen Tag vor der eigentlichen Katastrophe, wurde über Norddeichradio eine Sturmwarnung der Stärke neun mit dem Hinweis voraus­gesagt, dass möglicherweise eine sehr gefährliche Sturmflutlage zu erwarten sei.

In den Mittagsstunden des 16. Februar  drehte der Sturm dann auf Nord-West, drückte neues Wasser in die Elbmün­dung, ließ das vorhandene aber gar nicht erst heraus. In Bremen und Hamburg entsprach die gegen 20 Uhr eintretende Ebbe etwa dem normalen Tidehochwasser. Das hatte zur Folge, dass die nachfolgende Flut auch auf Grund massiver baulicher Unzuläng­lichkeiten die Deiche sprengte.
Aber nicht nur die Deiche. In den Industriekanal in Billwerder Moorfleet beispielsweise, wurde das Wasser so vehement hineingedrückt, dass am Ende des Flussbetts ein zehnmal zehn Meter großes Loch gerissen wurde. Und von dort aus lief das Wasser auch ins Landesinnere.

„Wir wurden von meinem Schwieger­vater geweckt,“ erzählte uns Walter Harnisch aus Billstedt, der zu dieser Zeit mit seiner Frau Gerda unweit des Kanals in einer 20 qm kleinen Gartenlaube wohnte. „Abends hatten wir noch alle gemeinsam “Familie Hesselbach“ gese­hen, sind dann aber zeitig ins Bett gegangen.“ Seine Frau Gerda ergänzt: „Das Klopfen meines Vaters an der Tür war kaum zu hören, weil die Geräusche, die der Wind verursachte, unglaublich laut waren.“

Dass sie beide von Gerdas Vater ge­weckt wurden war ihr Glück. Sonst hätten sie unter Umständen zu den über 300 Menschen gehört, die in dieser Nacht auf tragische Weise den Tot fanden. Gerdas Vater beobach­tete nämlich schon den ganzen Abend den Kanal. Als dann das Loch gerissen war, weckte er schnell seine Familie und packte die wichtigsten Habselig­keiten zusammen. Dazu hatten Gerda und Walter keine Zeit mehr. Sie ließen alles zurück, auch das Tonbandgerät,  das Gerda von ihrem Walter zwei Wochen zuvor zum Geburtstag ge­schenkt be­kommen hatte. „Das Wasser schoss mit einer ungeheuerlichen Geschwin­dig­­keit an uns vorbei,“ erzählten die beiden, damals gerade 24 und 26 Jahre alt und frisch verheiratet, „das kann man sich überhaupt nicht vorstellen. Wie ein horizontaler Wasserfall.“

Die ganze Familie und alle weiteren Bewohner der Siedlung flüchteten zu­erst auf die Eisenbahnbrücke direkt am S-Bahnhof Billwerder Moorfleet. Den Rest der Nacht verbrachten dann alle in der Schule Billbrookdeich. Dabei hat­ten sie noch Glück im Un­glück. Denn außergewöhnlich schwer betroffen war mehr das Unter­elbe­ge­biet, wo vor allem der Stadtteil Will­helms­burg durch Deichbrüche in Mitleidenschaft gezogen wurde; dort starben allein 315 Menschen.

Nach drei Tagen sind Walter und Gerda zurück in ihre kleine Laube, um den Schaden zu begutachten. „Alles war nass und zerstört,“ berichteten sie beide. „Wir hatten dann in die Schrän­ke geschaut, aber die Türen und Schub­laden gleich wieder verschlossen als wir das Durcheinander sahen. Das war ein Fehler.“ Durch die Nässe quoll das Holz so auf, dass es später nicht mehr möglich war, die Schränke zu öffnen. Beide waren verzweifelt, denn nun mussten sie auch noch den einzigen Schrank den sie besaßen zerkleinern, um an ihr letztes aber nasses Hab und Gut heranzukommen.

Ein Jahr lang haben sie hinterher noch in ihrer  Laube gewohnt, bis sie dann im Neu­baugebiet Billstedt Archenholz­straße eine schöne Wohnung bekamen, in der sie noch heute wohnen. Seit nunmehr 49 Jahren. Und 4000 Mark Entschädi­gung, von denen sie sich dann ihr erstes Auto gekauft haben, einen VW Käfer. So hat eine Katastrophe, wie in diesem Falle, auch noch etwas Gutes bezweckt.

Der Senat aber hat daraus gelernt, denn es ist nicht gewährleistet, dass Ham­burg wieder so einen Mann wie Helmut Schmidt, mit Selbstbewusstsein und Machtinstinkt, hervorzaubern wird. Der ehemalige Oberleutnant und damalige Polizeisenator beorderte nämlich kurzer Hand 8000 Bundeswehrsoldaten aus Heer, Luftwaffe und Marine mit 82 Hubschraubern nach Hamburg, des Weiteren 4000 britische, amerikanische und holländische Nato-Soldaten mit 19 Hubschraubern, 400 Mann vom  Bun­desgrenzschutz, 1700 Feuerwehrleute, 2000 Mann vom Technischen Hilfs­werk, 1000 DRK-Helfer einschließlich 350 Mann vom Hilfszug Hessen,  640 Helfer anderer karitativer Organisa­tio­nen, 2000 Mann vom Bundesluft­schutz­verband, 400 Bereischaftspoli­­zisten aus Nordrhein-Westfalen, Hes­­sen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein sowie  die gesamte Ham­burger Polizei mit rund 5000 Beamten. Helmut Schmidt sagte dazu nur: „Sie sind mir nicht unterstellt worden, ich habe sie mir genommen.“ Und keiner hatte es gewagt, diesem Mann zu wi­der­sprechen. Helmut Schmidt hatte nur ein Ziel vor Augen: Hamburg zu retten.

Mittlerweile wurde für rund 600 Millionen Euro die gesamte Hochwas-serschutzlinie auf einer Länge von zirka 100 Kilometern erneuert. Die Deiche, rund 80 Kilometer, wurden von 5,70 Meter auf 7,20 Meter erhöht. Auf rund 20 Kilometer sind Schutzwände errichtet worden. Die nächste Sturmflut kann also kommen, theoretisch. Besser aber wäre, dass so ein  Unglück nie wieder passiert und Helmut Schmidt noch zu Lebzeiten ein Denkmal gesetzt wird. Mike Neschki

1 Kommentar:

  1. Monika.Lempe@t-online.de13. Mai 2013 um 12:09

    Hallo, ich war als kleines Mädchen 1957 und 1958 in Billwerder bei Else und Richard Westphal als Berliner Ferienkind zu Gast. Ich verlebte zwei Sommer lang traumhafte Ferien und freundete mich auch mit dem Nachbarjungen Klaus Gacki an. Eine Weile stand ich in Briefkontakt aber nach der Sturmflut konnten meine Briefe niemanden mehr erreichen. Seitdem lässt mich der Gedanke an die Familien Westphal und Gacki nicht mehr los. Weiß jemand, was aus ihnen geworden ist? Waren auch sie unter den 300 Opfern?

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