Freitag, 26. August 2011

Ein Tag im Leben eines Bünabe's


Als „lüdden Buttje“ wurde ich früher immer gefragt, was ich denn später einmal werden wolle. Meine Antwort war wohl die fast aller kleinen Jungs: Fußballer, Feuer­wehr­mann oder Polizist. Ganz normal, oder?

Doch erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Und genau deshalb hatte ich wohl immer einen unerfüllten Traum. Einmal in meinem Leben einen Tag lang Polizist zu sein oder wenigstens einmal nur dabei gewesen zu sein. Diesen Traum habe ich mir nun erfüllt. Ich bin mit einem Polizis­ten, genauer beschrieben, mit einen bürger­nahen Beamten, kurz “Bünabe“ oder ganz genau mit einem Stadt­teilpolizisten durch Mümmel­mannsberg gegangen. Und hätte ich damals das Wissen von heute gehabt und hätte es damals schon die Stadtteilpolizisten gegeben, wäre diese explizite Bezeichnung bei der Nennung meiner Traumberufe mit Sicherheit dabei gewesen. Da wir aber nicht im Konjunktiv leben und ich auch nicht mehr zehn Jahre jung bin, bleibe ich demzufolge der Realität treu, möchte diesen Tag aber und die Erfahrung daraus gern mit Ihnen teilen.

Es begann damit, dass wir gemeinsam mit dem HVV-Bus von der Billstedter Wache Richtung Mümmelmanns­berg fuhren. Schon auf dem Weg dahin fiel mir auf, dass mein Bünabe, Polizeioberkommissar Olaf Brückner, jeden Passanten freundlich grüßte und auch freundlich zurück gegrüßt wurde. Höchst bemerkenswert, wie ich fand ich. Und wenn jemand auf ihn zukam und ihn ansprach, wurde angehalten und erst einmal ein Pläuschchen gehalten. Egal wer es war. Wobei man mich überhaupt nicht beachtete. Na ja, so ist eben das Leben. Mal steht man hinten, mal stehen die anderen vorn.

Viele Leute kennt er sogar namentlich. Nur fallen ihm diese nicht immer gleich ein, „aber im Laufe des Gesprächs rattern die vielen Namen derer, die ich aus dem Quartier kenne, vor meinem geistigen Auge auf und ab, und dann brauche ich nur noch auf die Stoptaste zu drücken, und schon fällt er mir wieder ein,“ scherzt mein Bünabe, den scheinbar nichts aus der Ruhe bringen kann. Früher war er bei der Rauschgiftfahndung, aber dieses Elend jeden Tag zu erleben, war nichts für ihn. Immer wieder sehen zu müssen, wie die meist jungen Menschen am Rauschgift zu Grunde gehen ­­– nein, das war nicht seine Welt. Seitdem aber kann ihn kaum noch etwas erschüttern. Außer Missbrauch an Frauen und Kindern. Wenn er so einen Fall aufnehmen muss, reißt ihm auch schon mal die Hutschnur. Aber eine Leiche zum Beispiel, die seit einem halben Jahr in einer Wohnung unentdeckt blieb, bringt ihn nicht mehr aus der Fassung. „Das passiert immer mal wieder,“ erklärte er mir glaubhaft, „dass Menschen tot und vergessen in ihren eigenen vier Wänden liegen, anonym und unbemerkt von den meist vielen Nachbarn, nicht vermisst von der eigenen Familie, sofern es überhaupt noch eine gibt.“

Vor neuneinhalb Jahren hat er sich für die Stelle des Statdtteilpolizisten beworben und ist sofort genommen worden. Und seitdem ruhe er wieder mehr in sich und liebe diese Art des Polizeidienstes. „Der Umgang mit den Menschen in Mümmelmannsberg füllt mich aus und macht mir große Freude, versichert er mir. Er selbst ist in Bergedorf aufgewachsen, also ganz in der Nähe von Bugs Bunny Hill, wie Mümmelmannsberg auch liebevoll genannt wird, lebt mit seiner Frau aber seit vielen Jahren in Harburg. „Mümmelmannsberg ist wie eine kleine Insel, die sich zwischen dem Landschaftsschutzgebiet Boberg, des Grenzortes Harvighorst und dem Stadtteil Kirchsteinbek befindet,“ erzählt mir der Bünabe, „und das mögen die Bewohner. Die Identifikation der Bürger mit diesem Viertel ist sehr hoch.“ Ich wollte es kaum glauben, denn immerhin weist dieser Bezirk rund 20.000 Einwohner auf und über ein Viertel davon sollen Sozialhilfe­empfänger sein, bis uns die 80-jährige Käthe Weihe-Flechtmann entgegen kommt. Schon von weitem winkt sie ihm zu – nicht uns, ihm (!) – nimmt „ihren“ Bünabe dann in die Arme und bestätigt mir, dass sie sich hier sehr wohl fühle. Dabei lädt sie uns (!) auch gleich zum Mittagessen im LAB-Haus ein. LAB bedeutet „Lange-Aktiv-bleiben“. Dort trifft sich Käte jeden Mittag mit Altersgenossen und genießt ihren wohlverdienten Ruhestand.

“Wir“ aber mussten noch zwei Beschwerden nachgehen, die morgens bei meinem Stadtteilpolizisten auf dem Tisch lagen. Bei einer Familie randalierte nachts ein enttäuschter Liebhaber im Treppenhaus und bei der anderen  fühlt sich ein Ehepaar von der Nachbarin beleidigt. In beiden Fällen war nichts wirklich Besonderes passiert, aber es war für alle Beteiligten gut, dass jemand von der Polizei vorbeikam, sich für den Fall interessierte. Auch dass man sich austauschen konnte: „Das ist für die Leute wichtig! Zu erkennen, wie ernst wir sie nehmen,“ kommentierte Herr Brückner meine unqualifizierte Anmerkung, dass er sich für die Familien  doch relativ viel Zeit genommen habe. „Das stimmt, aber die Besatzung eines Polizeiwagens kann diese Zeit einfach nicht aufbringen, weil ständig anscheinend Wichtigeres zu tun ist. Und deshalb machen wir diesen Job, wobei die Betonung auf “wir“ lag. Damit meinte er allerdings seine Kollegen und sich selbst. Und das ist auch gut so.“

Dass er zudem Tipps gibt, wie man sich bei bestimmten Situationen am besten verhalten sollte, auf Schlichtungsstellen verweist, gern mal nach dem Wohlbefinden der Familie fragt und auch, wie sich die Kinder in der Schule machen, ist einfach schön zu beobachten. Sofort tauschen wollte ich dann mit ihm, als ich sah, dass die kleinen Knirpse und Deerns, egal welchen Alters, sich immer unheimlich freuten wenn sie ihn sahen, ihn mit großen Augen anschauten und bestaunten.

„Das werden die Lüdden sicherlich nicht mehr machen, wenn sie erst mal ein Auto haben und falsch parken,“ zwinkert er mir zu, zückt sein Strafzettelblock und schreibt. Während der Oberkommissar den ausgefüllten Strafzettel hinter den Scheibenwischer steckt, spricht er mehr zu sich selbst: „15 Euro, damit muss er jetzt leben. Genau unterm absoluten Parkverbotsschild zu parken, ist frech.“ Und fügt etwas lauter an: „Ich mach es ja nicht gerne, aber wenn einer so dreist ist, nö, dann soll er auch zahlen.“
Dann schaut er noch schnell in die nächste Querstraße, ob die Baustellenschilder richtig aufgestellt worden sind und will danach mit mir zu seinem Stadtteilbüro, die schwere Regenjacke gegen eine leichte wechseln, da die Sonne an diesem Tag tatsächlich, aber natür-lich nur ausnahmsweise scheint. Da klingelt mal wieder sein Handy. Nicht das erste Mal an diesem Tag. Seine Nummer ist übrigens jedem Mümmel­mannsberger bekannt und deshalb kann er von jedem Stadt­teilbewohner auch angerufen werden. Ein älterer Herr, leider schon leicht verwirrt, wie mir Herr Brückner später erklärt, erzählt ihm aufgeregt, dass er seinen Haustürschlüssel und seine Zähne verlegt hätte … Ob er ihm helfen könne? Am lächelnden Gesichtsausdruck meines Bünabes erkenne ich, dass ihm der Mann am anderen Ende der Leitung gut bekannt ist. Er konnte dem Armen tatsächlich helfen, indem er ihm nur drei, vier Stellen in der Wohnung nannte, wo Gebiss und Schlüssel normalerweise liegen könnten. „Ich kenne seine Wohnung,“ berichtet mir Herr Brückner. „Von daher wusste ich, wo er seine Sachen immer versteckt“.

„Aha,“ war meine Reaktion. Mir fiel wirklich nichts Kluges daraufhin ein. „Er hat mich nicht das erste Mal angerufen und ganz sicher auch nicht das letzte Mal,“ diagnostizierte er noch. „Na dann,“ konnte ich jetzt doch noch etwas Kluges dazu beitragen.

Nach der “schweren“ Sache gehen wir weiter Richtung Stadtteilbüro, da kommt uns Lars-Jörn Giraths entgegen. Bei dem 39-jährigen Hauswart der Saga-GWG erkundigt sich der Bünabe, was sich in den letzten Wochen so verändert hat und passiert ist, von dem er vielleicht noch nichts wusste. Er hatte die letzten Wochen Urlaub und musste sich jetzt erst mal schlau machen, sozusagen auf den letzten Stand bringen. „Schließlich ist es ja so, dass die Polizei alles wissen muss,“ erklärt mir Oberkommissar Brückner. „Die Menschen kommen zu einem und fragen nach den unmöglichsten Dingen. Da ist es gut, dass es so einen Mann wie Herrn Girath gibt. Denn wenn sich hier einer im Quartier auskennt, dann ist er es.“

„Klar,“ sage ich und denke nicht ganz ernst gemeint, dass man diese Situation ja aus den Kriminalfilmen kennt. Die Polizei hat ihre Informanten schließlich überall …

Nach dem Gespräch mit dem Hauswart entscheidet sich  Oberkommissar Brückner statt ins Büro noch schnell in die blau-orange-farbene Ganztagsschule Mümmelmannsberg GSM zu gehen. Er fragt mich, ob ich mitkommen will. Da ich schlecht nein sagen kann, bin ich natürlich dabei. Eine Schule in Deutschland mit knapp 1200 Schülern bei einem Ausländeranteil von über 70 Prozent; Das sollte meine unge­teilte Aufmerksamkeit be­kommen. Die Frage, ob es tatsächlich so schlimm ist, wie alle behaupten, die nie dort waren,  interessiert mich brennend. Dazu habe ich mich unter anderem mit Frau Frauke Finster, die für die Berufsorientierung der Schüler zuständig ist und Herrn Wilhelm Koch-Burmeister unter­halten. Der Tenor beider Lehrer war, dass mit jährlich zirka zehn bis 12 Schülern mit- und ohne Migrationshintergrund, tatsächlich nur eine verschwindend geringe Anzahl derer auffällig wird. Und genau diese Schüler werden dann vom Ober­kommissar beob­achtet und gegebenenfalls begleitet. Und zwar gemeinsam mit den Lehrern bis hin zu den Eltern. Denn auch das gehört zu den Aufgaben eines Stadtteilpolizisten. Präventiv tätig zu sein, zum Beispiel auch durch Unterricht in den Klassen, auch durch Gespräche in den Pausen. Dazu setzt er sich in der Mensa schon mal zu den Schülern an den Tisch und unterhält sich mit ihnen über Gott und die Welt, über große und kleine Sorgen. Toll. Dass Gewalt, Alkohol und andere Drogen auf dieser Schule  vorherrschend sind und mehr konsumiert wird als früher und auf anderen Schulen stimmt nicht, versichert er mir. Das Problem sei mittlerweile vielmehr das Internet. Hier werden Schüler ganz feige anonym bedroht und gemobbt und die Lehrer haben es in der Woche dann wieder auszubaden. „Als hätten sie nichts anderes zu tun,“ und fügt hinzu: „Ein weiteres auffälliges Problem ist die Frustationstoleranz.“ „Das ist richtig,“ stimmt Wilhelm Koch-Burmeister zu und ergänzt: „Die ist extrem niedrig. Wenn heute ein Schüler etwas haben will, will er es sofort, statt eine Zeitlang zu sparen.“ Woran aber liegt diese Verhaltensweise? Eine Erklärung könnte die Tatsache sein, dass den jungen Menschen zum Beispiel die tollen Autos in ihrem Stadtteil auffallen, darin die jungen Menschen sehen, die wie Graf Koks vermeintlich ohne Ziel durch die Gegend fahren. Da fragen sich die Jugendlichen natürlich, wie die sich solche Boliden leisten können. Da sie meist keine plausible Antwort bekommen – unter Umständen ist es auch besser so – versuchen sie es im Kleinen zu kopieren. Kann ja so schwer nicht sein, denken sie. Wenn die Schüler dann aber ihr Vorhaben beispielsweise schon beim Handy, Computer oder anderen technischen Geräten nicht positiv bewerkstelligen können, weil das eigene Geld fehlt und auch die Eltern nicht helfend unter die dünnen Ärmchen greifen können, beginnen die ersten Handgreiflichkeiten. Dann werden schon mal, natürlich meist jüngere Schüler, abgezogen. Ein anderes Problem ist die Gewalteinwirkung männlicher Teenager und zwar jeglicher Coleur, bei Mädchen, die gerade ihre Sexualität entdecken. Wenn diese sich später vielleicht einem anderen Jungen zuwenden, das in dem Alter ja durchaus normal ist, wird immer öfter massiv Druck auf das schwächere Geschlecht ausgeübt. Das ist nicht nur dumm sondern auch noch feige und mittelalterlich und wird hauptsächlich von den Jungs praktiziert, die noch daran glauben, dass die Erde eine Scheibe ist.

Aber selbstverständlich gibt es auch junge Männer, deren Denkweise in die heutige Zeit passt, die zu diesem Thema eine andere Meinung haben und denen das Wort “Gleichberechtigung“ ein Begriff ist. Und mit solchen durfte ich mich unterhalten. Zu meiner Freude konnte ich dabei feststellen, dass ihnen nicht nur das Wort “Gleichberechtigung“ ein Begriff ist, sondern auch der vorhandene Wortschatz quantitativ über das gute Dutzend hinausgeht und qualitativ das so genannte “Kanakdeutsch“ der Minderbemittelten, meist Jugendlichen ohne Migrationshintergrund, nicht zwangsläufig zu ihrem Sprachrepertoir gehört. Weiterer vielver-sprechender Aspekt ist, dass sich meine Gesprächspartner überlegen, nach ihrem Abitur zur Polizei zu gehen. Da hat mein “Bünabe“ wohl auch in diesem Bereich unbewusst hervorragende Arbeit geleistet, denn die Polizei sucht tatsächlich qualifizierten Nachwuchs. Und wenn dieser so aussieht wie meine jungen Gesprächspartner der GSM, mach ich mir keine düsteren Gedanken mehr um die Zukunft und um die Polizei.  Weltoffen, kommunikativ und durchaus klug. Was will man mehr?

Und wenn sich nur die Hälfte aller Menschen so benehmen würden wie die Stadtteilpolizisten, mit anderen Worten: Helfen wo es geht, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, auch mal Fünfe gerade sein zu lassen, und immer freundlich bleiben, auch wenn die Situation vielleicht nicht dazu beiträgt. Ja, dann wäre die Welt in Ordnung, selbst wenn die Erde ein Kugel wäre… Mike Neschki

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