
Doch erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Und
genau deshalb hatte ich wohl immer einen unerfüllten Traum. Einmal in meinem
Leben einen Tag lang Polizist zu sein oder wenigstens einmal nur dabei gewesen
zu sein. Diesen Traum habe ich mir nun erfüllt. Ich bin mit einem Polizisten,
genauer beschrieben, mit einen bürgernahen Beamten, kurz “Bünabe“ oder ganz
genau mit einem Stadtteilpolizisten durch Mümmelmannsberg gegangen. Und hätte
ich damals das Wissen von heute gehabt und hätte es damals schon die Stadtteilpolizisten
gegeben, wäre diese explizite Bezeichnung bei der Nennung meiner Traumberufe
mit Sicherheit dabei gewesen. Da wir aber nicht im Konjunktiv leben und ich
auch nicht mehr zehn Jahre jung bin, bleibe ich demzufolge der Realität treu,
möchte diesen Tag aber und die Erfahrung daraus gern mit Ihnen teilen.
Es begann damit, dass wir gemeinsam mit dem HVV-Bus von der
Billstedter Wache Richtung Mümmelmannsberg fuhren. Schon auf dem Weg dahin
fiel mir auf, dass mein Bünabe, Polizeioberkommissar Olaf Brückner, jeden
Passanten freundlich grüßte und auch freundlich zurück gegrüßt wurde. Höchst
bemerkenswert, wie ich fand ich. Und wenn jemand auf ihn zukam und ihn
ansprach, wurde angehalten und erst einmal ein Pläuschchen gehalten. Egal wer
es war. Wobei man mich überhaupt nicht beachtete. Na ja, so ist eben das Leben.
Mal steht man hinten, mal stehen die anderen vorn.

Vor neuneinhalb Jahren hat er sich für die Stelle des
Statdtteilpolizisten beworben und ist sofort genommen worden. Und seitdem ruhe
er wieder mehr in sich und liebe diese Art des Polizeidienstes. „Der Umgang mit
den Menschen in Mümmelmannsberg füllt mich aus und macht mir große Freude,
versichert er mir. Er selbst ist in Bergedorf aufgewachsen, also ganz in der
Nähe von Bugs Bunny Hill, wie Mümmelmannsberg auch liebevoll genannt wird, lebt
mit seiner Frau aber seit vielen Jahren in Harburg. „Mümmelmannsberg ist wie
eine kleine Insel, die sich zwischen dem Landschaftsschutzgebiet Boberg, des
Grenzortes Harvighorst und dem Stadtteil Kirchsteinbek befindet,“ erzählt mir
der Bünabe, „und das mögen die Bewohner. Die Identifikation der Bürger mit
diesem Viertel ist sehr hoch.“ Ich wollte es kaum glauben, denn immerhin weist
dieser Bezirk rund 20.000 Einwohner auf und über ein Viertel davon sollen
Sozialhilfeempfänger sein, bis uns die 80-jährige Käthe Weihe-Flechtmann
entgegen kommt. Schon von weitem winkt sie ihm zu – nicht uns, ihm (!) – nimmt
„ihren“ Bünabe dann in die Arme und bestätigt mir, dass sie sich hier sehr wohl
fühle. Dabei lädt sie uns (!) auch gleich zum Mittagessen im LAB-Haus ein. LAB
bedeutet „Lange-Aktiv-bleiben“. Dort trifft sich Käte jeden Mittag mit
Altersgenossen und genießt ihren wohlverdienten Ruhestand.

Dass er zudem Tipps gibt, wie man sich bei bestimmten
Situationen am besten verhalten sollte, auf Schlichtungsstellen verweist, gern
mal nach dem Wohlbefinden der Familie fragt und auch, wie sich die Kinder in
der Schule machen, ist einfach schön zu beobachten. Sofort tauschen wollte ich
dann mit ihm, als ich sah, dass die kleinen Knirpse und Deerns, egal welchen
Alters, sich immer unheimlich freuten wenn sie ihn sahen, ihn mit großen Augen
anschauten und bestaunten.

Dann schaut er noch schnell in die nächste Querstraße, ob
die Baustellenschilder richtig aufgestellt worden sind und will danach mit mir
zu seinem Stadtteilbüro, die schwere Regenjacke gegen eine leichte wechseln, da
die Sonne an diesem Tag tatsächlich, aber natür-lich nur ausnahmsweise scheint.
Da klingelt mal wieder sein Handy. Nicht das erste Mal an diesem Tag. Seine
Nummer ist übrigens jedem Mümmelmannsberger bekannt und deshalb kann er von
jedem Stadtteilbewohner auch angerufen werden. Ein älterer Herr, leider schon
leicht verwirrt, wie mir Herr Brückner später erklärt, erzählt ihm aufgeregt,
dass er seinen Haustürschlüssel und seine Zähne verlegt hätte … Ob er ihm
helfen könne? Am lächelnden Gesichtsausdruck meines Bünabes erkenne ich, dass
ihm der Mann am anderen Ende der Leitung gut bekannt ist. Er konnte dem Armen
tatsächlich helfen, indem er ihm nur drei, vier Stellen in der Wohnung nannte,
wo Gebiss und Schlüssel normalerweise liegen könnten. „Ich kenne seine
Wohnung,“ berichtet mir Herr Brückner. „Von daher wusste ich, wo er seine
Sachen immer versteckt“.
„Aha,“ war meine Reaktion. Mir fiel wirklich nichts Kluges
daraufhin ein. „Er hat mich nicht das erste Mal angerufen und ganz sicher auch
nicht das letzte Mal,“ diagnostizierte er noch. „Na dann,“ konnte ich jetzt
doch noch etwas Kluges dazu beitragen.
Nach der “schweren“ Sache gehen wir weiter Richtung
Stadtteilbüro, da kommt uns Lars-Jörn Giraths entgegen. Bei dem 39-jährigen
Hauswart der Saga-GWG erkundigt sich der Bünabe, was sich in den letzten Wochen
so verändert hat und passiert ist, von dem er vielleicht noch nichts wusste. Er
hatte die letzten Wochen Urlaub und musste sich jetzt erst mal schlau machen,
sozusagen auf den letzten Stand bringen. „Schließlich ist es ja so, dass die
Polizei alles wissen muss,“ erklärt mir Oberkommissar Brückner. „Die Menschen
kommen zu einem und fragen nach den unmöglichsten Dingen. Da ist es gut, dass
es so einen Mann wie Herrn Girath gibt. Denn wenn sich hier einer im Quartier
auskennt, dann ist er es.“
„Klar,“ sage ich und denke nicht ganz ernst gemeint, dass
man diese Situation ja aus den Kriminalfilmen kennt. Die Polizei hat ihre
Informanten schließlich überall …
Nach dem Gespräch mit dem Hauswart entscheidet sich Oberkommissar Brückner statt ins Büro
noch schnell in die blau-orange-farbene Ganztagsschule Mümmelmannsberg GSM zu
gehen. Er fragt mich, ob ich mitkommen will. Da ich schlecht nein sagen kann,
bin ich natürlich dabei. Eine Schule in Deutschland mit knapp 1200 Schülern bei
einem Ausländeranteil von über 70 Prozent; Das sollte meine ungeteilte
Aufmerksamkeit bekommen. Die Frage, ob es tatsächlich so schlimm ist, wie alle
behaupten, die nie dort waren,
interessiert mich brennend. Dazu habe ich mich unter anderem mit Frau
Frauke Finster, die für die Berufsorientierung der Schüler zuständig ist und
Herrn Wilhelm Koch-Burmeister unterhalten. Der Tenor beider Lehrer war, dass
mit jährlich zirka zehn bis 12 Schülern mit- und ohne Migrationshintergrund,
tatsächlich nur eine verschwindend geringe Anzahl derer auffällig wird. Und
genau diese Schüler werden dann vom Oberkommissar beobachtet und
gegebenenfalls begleitet. Und zwar gemeinsam mit den Lehrern bis hin zu den
Eltern. Denn auch das gehört zu den Aufgaben eines Stadtteilpolizisten.
Präventiv tätig zu sein, zum Beispiel auch durch Unterricht in den Klassen,
auch durch Gespräche in den Pausen. Dazu setzt er sich in der Mensa schon mal
zu den Schülern an den Tisch und unterhält sich mit ihnen über Gott und die
Welt, über große und kleine Sorgen. Toll. Dass Gewalt, Alkohol und andere
Drogen auf dieser Schule
vorherrschend sind und mehr konsumiert wird als früher und auf anderen
Schulen stimmt nicht, versichert er mir. Das Problem sei mittlerweile vielmehr
das Internet. Hier werden Schüler ganz feige anonym bedroht und gemobbt und die
Lehrer haben es in der Woche dann wieder auszubaden. „Als hätten sie nichts
anderes zu tun,“ und fügt hinzu: „Ein weiteres auffälliges Problem ist die
Frustationstoleranz.“ „Das ist richtig,“ stimmt Wilhelm Koch-Burmeister zu und
ergänzt: „Die ist extrem niedrig. Wenn heute ein Schüler etwas haben will, will
er es sofort, statt eine Zeitlang zu sparen.“ Woran aber liegt diese
Verhaltensweise? Eine Erklärung könnte die Tatsache sein, dass den jungen
Menschen zum Beispiel die tollen Autos in ihrem Stadtteil auffallen, darin die
jungen Menschen sehen, die wie Graf Koks vermeintlich ohne Ziel durch die
Gegend fahren. Da fragen sich die Jugendlichen natürlich, wie die sich solche
Boliden leisten können. Da sie meist keine plausible Antwort bekommen – unter
Umständen ist es auch besser so – versuchen sie es im Kleinen zu kopieren. Kann
ja so schwer nicht sein, denken sie. Wenn die Schüler dann aber ihr Vorhaben
beispielsweise schon beim Handy, Computer oder anderen technischen Geräten
nicht positiv bewerkstelligen können, weil das eigene Geld fehlt und auch die
Eltern nicht helfend unter die dünnen Ärmchen greifen können, beginnen die
ersten Handgreiflichkeiten. Dann werden schon mal, natürlich meist jüngere
Schüler, abgezogen. Ein anderes Problem ist die Gewalteinwirkung männlicher
Teenager und zwar jeglicher Coleur, bei Mädchen, die gerade ihre Sexualität
entdecken. Wenn diese sich später vielleicht einem anderen Jungen zuwenden, das
in dem Alter ja durchaus normal ist, wird immer öfter massiv Druck auf das
schwächere Geschlecht ausgeübt. Das ist nicht nur dumm sondern auch noch feige
und mittelalterlich und wird hauptsächlich von den Jungs praktiziert, die noch
daran glauben, dass die Erde eine Scheibe ist.
Aber selbstverständlich gibt es auch junge Männer, deren
Denkweise in die heutige Zeit passt, die zu diesem Thema eine andere Meinung
haben und denen das Wort “Gleichberechtigung“ ein Begriff ist. Und mit solchen
durfte ich mich unterhalten. Zu meiner Freude konnte ich dabei feststellen,
dass ihnen nicht nur das Wort “Gleichberechtigung“ ein Begriff ist, sondern
auch der vorhandene Wortschatz quantitativ über das gute Dutzend hinausgeht und
qualitativ das so genannte “Kanakdeutsch“ der Minderbemittelten, meist
Jugendlichen ohne Migrationshintergrund, nicht zwangsläufig zu ihrem Sprachrepertoir
gehört. Weiterer vielver-sprechender Aspekt ist, dass sich meine
Gesprächspartner überlegen, nach ihrem Abitur zur Polizei zu gehen. Da hat mein
“Bünabe“ wohl auch in diesem Bereich unbewusst hervorragende Arbeit geleistet,
denn die Polizei sucht tatsächlich qualifizierten Nachwuchs. Und wenn dieser so
aussieht wie meine jungen Gesprächspartner der GSM, mach ich mir keine düsteren
Gedanken mehr um die Zukunft und um die Polizei. Weltoffen, kommunikativ und durchaus klug. Was will man
mehr?
Und wenn sich nur die Hälfte aller Menschen so benehmen würden wie die
Stadtteilpolizisten, mit anderen Worten: Helfen wo es geht, sich selbst nicht
so wichtig zu nehmen, auch mal Fünfe gerade sein zu lassen, und immer
freundlich bleiben, auch wenn die Situation vielleicht nicht dazu beiträgt. Ja,
dann wäre die Welt in Ordnung, selbst wenn die Erde ein Kugel wäre… Mike
Neschki
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