Mittwoch, 7. November 2012

"Du merkst sofort, Du bist unerwünscht."


Es ist ein bedrückendes Gefühl, in einem kleinen Zimmer zu stehen, welches nicht sonderlich gemütlich eingeräumt ist, das kaum Freiraum bietet und dessen Fenster mit schwarzen Vorhängen verdeckt sind. Doch genau so musste sich Anne Frank gefühlt haben, als sie sich zur Zeit des Hitler-Regimes im Hinterhaus der Firma Pectacon im holländischen Amsterdam mit ihrer und einer weiteren Familie versteckte. Die Familie Frank war aus ihrer Heimat Frankfurt am Main geflüchtet. Schon in dieser Zeit schrieb Anne viel in ihr Tagebuch. Ich kann es mir schwer vorstellen, wie es gewesen sein muss, immer mehr Verbote zu bekommen. Dinge, die ich für selbstverständlich halte, waren für Anne ein unerreichbarer Luxus: ein Schulbesuch, Kinobesuche, öffentliche Schwimmbäder, einkaufen wann und wo immer man wollte, ohne Bedenken auf die Straße gehen. Anne verlor in jungem Alter ihr Leben im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Und all das nur, weil sie Jüdin war. Unerwünscht.


Text: Maxi Joline Baumert (16) aus Billstedt

Im September 2012 durfte ich dann ein wenig nachempfinden, wie es war, als jugendliches Mädchen diese Zeit zu spüren. In Schwerin fand das Musikfestival „Verfemte Musik“ statt. Hier spielte ich in einem bundesweit zusammen gestellten Workshop von 16 Schülern und Schülerinnen, zwischen 14 und 18 Jahren, unter der Leitung von Doris Post und Helen Peyton autobiografisches Theater über die Holocaust-Überlebende Anita Lasker-Wallfisch. Anita, 1925 in Breslau geboren, wurde 1943 nach Auschwitz deportiert, nachdem sie bereits im Waisenhaus und im Zuchthaus war. Durch einen Zufall wurde man bei der Selektion darauf aufmerksam dass sie Cello spielte. Ein Zufall, der ihr das Leben rettete: Sie wurde Mitglied im Mädchenorchester des Konzentrationslagers Auschwitz und entging somit der Gaskammer, also dem sofortigen Tod. In diesem Workshop „durchlebten“ wir natürlich nicht all das Schreckliche, welches Anita Lasker-Wallfisch als Teil davon miterlebte. Dennoch bekamen wir ein Gefühl dafür wie schrecklich es damals war, nur seiner Religion wegen, so sehr unerwünscht zu sein. Sowohl Anne Frank, als auch Anita Lasker-Wallfisch waren etwa in meinem Alter, als sie dieses Gefühl hautnah erfuhren: Unerwünscht sein.

Zwar gibt es heutzutage in Deutschland keine politischen Verfolgungen mehr in diesem Ausmaß, dennoch frage ich mich, ob sich auch heute noch Jugendliche unerwünscht fühlen. Wenn ja, war es denn das gleiche unerwünscht sein, wie zu der Zeit des Nationalsozialismus.

Ich befrage jugendliche Passanten und eine 10. Klasse des Gymnasiums der Wichern-Schule, die gerade ein zweiwöchiges pädagogisches Praktikum absolviert hat. In diesem Praktikum verschlug es die 23 Schüler in die unterschiedlichsten Richtungen: von unterschiedlichen Kindergärten bis hin zu Pflege- und Seniorenheimen. Durch die Einblicke die sie erhielten, haben viele Schüler ihre Meinung zu bestimmten Personengruppen revidiert, die in unserer Gesellschaft ebenfalls als unerwünscht abgestempelt werden. Doch kann denn überhaupt definiert werden, welche Personengruppen als unerwünscht gelten? Diese Frage ist schwer zu beantworten, da das Empfinden unerwünscht zu sein sehr individuell ausgeprägt ist.

Die 10g2 der Wichern-Schule ist sich darüber einig, dass es nicht nur die Faktoren Herkunft, Hautfarbe, Religion, körperliche und/oder geistige Handicaps, sexuelle Orientierung oder die soziale Schicht sind, die dazu verleiten sich anders, ausgegrenzt oder unerwünscht zu fühlen.

Ihrer Meinung nach passiert es vor allem unter Jugendlichen sehr schnell, dass sie sich schon durch kleine Missverständnisse gegenüber Freunden, im Sportverein oder in der Schule so unbeliebt machen, dass sie letztendlich ausgegrenzt werden. Als Ergebnis: unerwünscht sind.

Auch die verschiedenen Mentalitäten und Charaktereigenschaften spielen in Gruppen und Cliquen eine große Rolle. „Man kann sich bereits unerwünscht fühlen, sobald man das Gefühl hat einfach anders zu sein. Oftmals reicht dieses Gefühl schon aus“, meint Annkathrin S.

Ich gebe der Klasse die Themenbeispiele Anne Frank und Anita Lasker-Wallfisch und frage, worin die Unterschiede des damaligen unerwünscht seins zur heutigen Zeit liegen.

Die Klasse überlegt. „Gesetzliche Änderungen, wie das Antidiskriminierungsgesetz tragen dazu bei, dass Menschen beispielsweise wegen ihrer Religion nicht mehr um ihr Leben fürchten müssen.“, wirft der Klassenlehrer Florens R. ein.  „Die Menschen haben aus den Geschehnissen der Nazizeit gelernt, damit so etwas nicht noch einmal passiert.“, ist sich Julia A. sicher. „Anita Lasker-Wallfisch und Anne Frank waren in jeder Beziehung unerwünscht – man nahm ihnen schließlich ihre ganze Existenz“, so fasst es Lennart S. treffend zusammen.

Aber wie können wir dagegen angehen? Wie sollen wir mit einer Situation umgehen, in der jemand diskriminiert wird? Sich einfach einmischen? Kerem T. überlegt: „Stell dir vor, jemand macht das mit dir!“ Die Klasse diskutiert unterschiedliche Ideen, wie man helfen kann. Beispielsweise verstärkte Aufklärung über die Hintergründe kultureller und religiöser Aspekte und auch der Hinweis auf anonyme Hilfeeinrichtungen bei Mobbing. Wichtig ist es vor allem Vorbilder zu haben. Einrichtungen wie die Arche, die Hamburger Tafel, der Internationale Bund und die Hinz & Kunzt sind durch ihre Arbeit Vorbilder. Und das ist es, worauf es ankommt. Dieser Meinung ist auch Michel D. „Man muss den anderen ein Vorbild sein. Auch, wenn es manchmal schwer ist.“ Ebenso die Idee, der passbildfreien Bewerbungen kommt bei den meisten Schülern gut an. „Die Qualitäten des Bewerbers rücken dadurch in den Vordergrund, nicht das Aussehen oder die Herkunft. Darauf kommt es an.“, findet Lena H.

Bei meiner Befragung von den jungen Passanten stieß ich auf ähnliche Gedanken. Das unerwünscht sein heutzutage sei viel unterschwelliger als früher, wie mir eine Schülerin erzählt. „Manchmal ist es schwer zu erkennen, dass sich jemand anderes unerwünscht fühlt, weil es oft schwierig ist, die Situation richtig einzuschätzen.“, sagt ein Schüler und fährt fort: „Das hat auch etwas mit Sensibilität und Empathie zu tun.“ Eine weitere Passantin sagt: „Durch Vorurteile entstehen auch gewisse Abneigungen. Wenn ich allerdings mit den Leuten ins Gespräch komme, bilde ich mir meine eigene Meinung und gebe den Leuten dadurch automatisch eine Chance.“

Was Konfliktsituationen angeht ist es schwierig und riskant zugleich dort einzugreifen. Daher verhalten sich Menschen oft einfach still, um Ärger zu vermeiden. In diesem Punkt unterscheidet sich die heutige Zeit kaum von früher. „Man braucht Courage. Früher wie heute. Nur leider machen das nicht viele.“, so Judith Landshut, Mitarbeiterin der jüdischen Gemeinde in Hamburg.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir den Personen, die sich unerwünscht fühlen, auch helfen, indem wir ihnen Anerkennung geben, Interesse zeigen, offen sind oder sie einfach mit in unseren Alltag einbeziehen.

Auf meine Frage, in wie fern sich der Alltag der betroffenen Jugendlichen damals, vom Alltag von Jugendlichen heute unterscheidet, antwort Judith Landshut, die selbst Jüdin ist:

„Heute ist der Alltag einfacher als zur Zeit des 2. Weltkrieges. Wenn man in der Zeit früher ein Jude war, dann bedeutete das seinen Tod. Heute sind wir frei. Wir leben mit vielen Nationen zusammen, hören viele Sprachen. Das ist fantastisch.“ Haben sich jugendliche Juden im Vergleich zu heute verändert, wollte ich von ihr wissen. „Sie haben heutzutage viel mehr Freiheiten und unsere Religion bestimmt nicht mehr, ob wir um unser Leben zu fürchten haben oder nicht. Man musste sich diesen schrecklichen Gesetzen beugen. Die, die die Juden vertreiben wollten waren die Repräsentanten dieser Gesellschaft. Früher lebte man ständig in Angst.“ Sie fährt fort: „In der Vorkriegszeit schon war das jüdische Leben ganz anders als heute. Es gab viele jüdische Geschäfte und viel mehr jüdische Schulen. Das Judentum wurde intensiver ausgelebt.“ In der Zeit vor dem Krieg zählte man in Hamburg rund 24.000 Juden, nach dem Krieg nur noch 624.  Aber war es denn früher möglich, Widerstand zu leisten? „Natürlich. Aber unter höchster Gefahr. Unter Lebensgefahr.“, so Landshut weiter.

Auswirkungen hat das bis heute noch, wie Judith Landshut erzählt: „Die Überlebenden leiden bis heute noch. Sie trauern um Freunde oder Familienmitglieder, die flüchten mussten, verschollen sind, oder ins Konzentrationslager gebracht wurden. Die Erinnerung ist immer da, aber das ist auch wichtig!“

Unsere Aufgabe ist es, niemals zu vergessen und auch in Zukunft die Augen offen zu halten!

Der Text ist Teil des Projektes “Klosterschüler machen Politik”. Siehe www.hh-mittendrin.de

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